7-8/2005 Wiki als Kommunikationsmedium im Katastrophenfall

Wikipedia besteht aktuell aus über 600.000 englischen Artikeln, wuchs also in den letzten beiden Jahren um etwa 300 Prozent, wenn man die mittlerweile in insgesamt 198 (!) Sprachen verfassten Artikel außerhalb des Englischen weglässt. Das besondere an Wikis ist jedoch nicht nur die Aufhebung der Grenze zwischen zwischen Produzent und Konsument, sondern auch die Geschwindigkeit, mit der auf Aktuelles reagiert wird. Dazu kommt, dass Wikipedia nicht von einer zentralen Instanz geschrieben wird, eine Tatsache, die einerseits die Verlässlichkeit der Information in Frage stellt, andererseits aber auch genau im Gegenteil diese Information umso verlässlicher macht. Der spanischer Arzt Lucas Gonzalez hatte festgestellt, dass Wikipedia während der Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004 ein wichtiges, vor allem aber kollektives Informationssystem war, wie die History des Artikels mit vielen tausend Änderungen zeigt. Aus diesem Grunde erweiterte er bei Wikipedia einen Artikel über Vogelgrippe, um so über medizinsche und soziale Vorbeugungsmöglichkeiten und Strategien im Umgang mit Epidemien zu informieren. Wie der Autor John Barry in seinem Buch „The Great Influenza: The Epic Story of the Deadliest Plague In History“ schreibt, starben während der Spanische-Grippe-Epidemie 1918 weltweit mehr als 50 Millionen Menschen. Ein entscheidendes Problem damals war, dass die Regierungen Informationen über die Epidemie in den Massenmedien zensierten und somit das Vertrauen in diese untergruben, sodass niemand mehr offiziellen Angaben glaubte. Amerikanische Forscher stellten fest, dass diejenigen, die aus den Türmen des World Trade Centers fliehen konnten, viel bessere Informationen via Handy und Textmessenger von Bekannten außerhalb erhielten als von den offiziellen Stellen wie Notruf und Gebäudemanagement. Dem entsprechend könnten Wikipedia oder Weblogs kollektiv, von unten kontrollierte Informationsschaltstellen sein, die nicht so leicht wie Presse, Fernsehen und Radio manipuliert werden können – außer man schaltet das Internet insgesamt ab. Dabei bleiben allerdings einige Probleme: Erstens der Digital Devide – etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung haben Webzugang, und der ist natürlich je nach Region sehr ungleich verteilt. Zweitens die Zentralität: Wikipedia liegt auf einem Server-Cluster in Florida, ist also angreifbar, verteilte Information würde dem angepeilten Zweck besser entsprechen. Und drittens die Prozessualität: Trotz des Tsunami-Artikels ist Wikipedia doch eine Enzyklopädie, also auf statische, endgültige Information ausgerichtet und somit nicht eine Arbeitsplattform.

en.wikipedia.org/wiki/2004_Indian_Ocean_earthquake

en.wikipedia.org/wiki/Avian_influenza
www.redmonk.com/sogrady/archives/000736.html
www.wired.com/wired/archive/13.06/start.html?pg=3?tw=wn_tophead_6