9/2022 Abriss

Der Normalfall zeitgenössischen Bauens ist die vielbeschworene tabula rasa der Moderne, die leere, grüne Wiese – obwohl natürlich klar ist, dass es in Europa heute nicht mehr viele solche grüne Wiesen zu bebauen gibt. Das heißt, die tabula rasa muss oft erst hergestellt werden – durch Abbruch von Bestand, der die Möglichkeit für einen Neubau schafft. Das ist problematisch, zunächst in vielen Fällen aus kulturellen Gründen, weil oft gute Architektur, soweit sie nicht durch Denkmal- oder Ortsbildschutz abgesichert ist, dadurch von der Bildfläche verschwindet. Es ist heute aber vor allem auch aus Nachhaltigkeitsgründen problematisch. 84 Prozent der Abfälle beispielsweise in der Schweiz stammen aus der Baubranche, jede Sekunde werden dort 500 Kilogramm Bauabfälle entsorgt, die Baubranche ist etwa für die Hälfte des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Ein großer Teil dieser Abfälle und dieser Emissionen müsste nicht sein, sogar ganz ohne dass man nachhaltiger baut, einfach dadurch, dass man Bestand länger erhält und somit weniger neu baut. Bestandserhaltung ist das Nachhaltigste, was man im Bauen tun kann. Dafür steht beispielsweise das französische Architekturbüro Lacaton Vassal, das vergangenes Jahr den Pritzker-Preis erhalten hat: Es ist der Ansicht, dass man niemals abreißen sollte, dass jeder Bestand erhalten, umgebaut, verbessert werden kann. Die Baupraxis des Büros zeigt, wie das geht – und auf welch architektonisch hohem Niveau das möglich ist, dass also der Wechsel zum Normalfall Bestandserhaltung kein Nachteil für die Architektur wäre. Die Schweizer Gruppierung „Countdown 2030“ will genau das in einer Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel ab September vermitteln. Die Gruppe hat ihren Namen daher, dass bis 2030, also in ca. 2.700 Tagen (Stand Mitte August 2022) die wichtigsten Schritte hin zur Nachhaltigkeit im Bauen und in allen anderen Sektoren geschafft sein müssen, um das Schlimmste zu verhindern. Ein Teil der Ausstellung ist die Website Abriss-Atlas Schweiz, auf der man Abrisse im ganzen Land eintragen kann, um einen Überblick über die Entwicklung zu geben. Die bereits fast 200 Einträge sind in einer Karte visualisiert, mit Fotos des Bestands ergänzt und teils durch Geschichten genauer erläutert. Eine Fotogalerie zeigt alle betroffenen Häuser auf einer Seite. In der Ausstellung sollen außerdem auch Videos von aktuellen Abrissen in der Schweiz gezeigt werden, und man will durch Plakate auf Baustellenzäunen auf die Vorteile des Sanierens verweisen.

www.abriss-atlas.ch
countdown2030.ch