Wohnen als Anlass. Housing as Opportunity – An Austrian Perspective

„Wohnen als Anlass. Housing as Opportunity – An Austrian Perspective“, in: Bettina Götz (Hg.): Before Architecture. Vor der Architektur, Wien: Springer 2008, Band 2, S. 60–73 (mit Christian Kühn)

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Ausschnitt S. 65:

Aufbürdungen

Eine Wohnung schützt nicht nur vor Regen, Lärm und zudringlichen Nachbarn. Im Laufe der menschlichen Geschichte befriedigte sie eine lange Reihe von Bedürfnissen. Sie ist der Ort der Reproduktionssphäre, also vor allem des Haushalts und der Kinderbetreuung. Das Wohnhaus war bis zum Entstehen der arbeitsteiligen Gesellschaft immer auch Produktionsstätte – und wird das zusehends wieder, wenn die Heimarbeiter heute auch nicht mehr Spinnerinnen und Weber, sondern Telefonmarketing-Agents und freiberufliche Journalistinnen sind. Und sie war und ist Ort der Intimität. Doch auch damit ist noch lange nicht erschöpfend beschrieben, was das Wohnen alles leisten soll.
Wohnen ist Anlass für die Befriedigung von Repräsentations- und Identifikationswünschen. Wohnungen und Wohnhäuser sollen ein positives Bild ihrer Bewohner und Eigentümer abgeben, sowohl für diese selbst als auch für Fremde und Besucher. Das betrifft einerseits die Wohnform – also etwa Einfamilienhaus statt Wohnblock, detached statt terraced, mansion statt housing project oder gar trailer park. Es betrifft die öffentlichen Bereiche in der Wohnung, die Besuchern präsentiert werden, also Wohn- und Esszimmer, aber auch Vorräume und Badezimmer, Gärten und Terrassen. Und es betrifft schließlich auch die Privaträume im engeren Sinne, die ein Bild für die Bewohner selbst, für Familienmitglieder und enge Freunde geben.
Zu dieser Rolle als Identifikationsträger im privaten Leben kommt die Bedeutung des Wohnbaus als politisches Manifest, als Werkzeug der gesellschaftlichen Repräsentation. Die „Wohnungsfrage“ war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale Triebfeder für gesellschaftliche Reformen. Siedlerbewegungen und Genossenschaften forderten ein Grundrecht auf Wohnen. In Wien konnte die sozialistische Regierung nach dem Ersten Weltkrieg ein massives Wohnbauprogramm aufbauen, das die Wohnverhältnisse für breite Gesellschaftsschichten dramatisch verbesserte. Die Architektur dieser Wohnbauten orientierte sich nicht am „Internationalen Stil“, sondern beruht auf Hoftypologien, die sich bereits in frühsozialistischen Visionen wie Fouriers Phalanstère finden. Der Wiener Wohnbau der Zwischenkriegszeit erreicht als symbolischer Ausdruck eines kollektiven Willens Palastdimensionen. Als Alternative zu diesen kollektivistischen „Volkswohnungspalästen“ förderten Architekten wie Adolf Loos und Josef Frank die Siedlerbewegung, in der sie eine Möglichkeit zur Lösung der Wohnungsfrage sahen, die dem Individuum größeren Freiraum bot. Dass sich die Stadt Wien sehr bald von dieser Option abwandte, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass der Siedlungsbau weit weniger geeignet war, die Macht der politischen Bewegung zu stützen und auszudrücken, die ihn ermöglichte.