Sitz und Stimme. Über Parlamentsarchitektur

Sitz und Stimme. Über Parlamentsarchitektur (On the Architecture of Parliament Buildings; unpublished work), Vienna 1997, 50 pp.

Excerpt pp. 4–5:

Architektur und Politik

Das Thema Parlament verführt dazu, von politischer Architektur zu sprechen. Hier soll aber nicht einem verkürzten Verständnis der Verbindung von Architektur und Politik das Wort geredet werden. Die Zwecke eines Gebäudes machen dieses selbstverständlich noch nicht zu einem politischen oder nicht politischen, außer vielleicht in der Hinsicht, dass in einer Gesellschaft oder einem Staat eben Gebäude für bestimmte Zwecke errichtet werden oder für andere nicht – man denke etwa an die kommunale Bauleistung in Wien in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, die ja nicht nur in Wohnbau, sondern auch vielen anderen „gemeinnützigen“ Bautypen bestand. Im Vergleich mit der Architektur anderer Zeiten oder anderer Städte hat Derartiges natürlich politische Bedeutung.

Eine unmittelbare und umkehrbare Verbindung von Ästhetik und Politik existiert nicht: „Da Architektur Funktionen erfüllt, werden üblicherweise Bauten, die politischen Funktionen dienen, als politische Architektur bezeichnet. Das Funktionsgehäuse für Politik ist jedoch noch nicht politisch, genausowenig wie die Architektur einer Schule erzieherisch ist. Architektur kann zur Ausübung von Politik und Macht funktionieren und deshalb einen entsprechenden Eindruck evozieren, wobei zumeist allerdings nur in einer Art Zirkelschluss „moralische“ Kennzeichen der jeweiligen Machtform, wie hierarchisch/zentralistisch, verschlossen/blockhaft oder offen/transparent, auf Architektur projiziert werden. Die historische und politische Unschärfe dieser projektiv-assoziativen Architekturwahrnehmung bewiesen Testuntersuchungen, die zeigten, dass weder Laien noch Architekten genau zwischen klassizistischer Architektur um 1800 und sogenanntem faschistischem Neoklassizismus unterscheiden können. Je spezifischer die Form von politischer Macht, desto problematischer wird zudem jede Zuordnung.“ (Winfried Nerdinger: Politische Architektur, in: Architektur und Demokratie, S. 1) Allerdings bedeutet das nicht, dass es keine Verbindung zwischen Ästhetik und Politik gibt – die Konnexe sind nur weniger offensichtlich und nicht ohne weiteres decodierbar.

Wolfgang Sonne versucht in seinem Beitrag zu einem Band über die griechische Polis folgende Kategorisierung der Anknüpfungspunkte aus kunsthistorischer Sicht: „Architektur ist grundlegend mit Politik verbunden […]. Auf einer weiteren Ebene können Bauten Aussagen machen über politische Zusammenhänge ihrer Entstehungszeit; sie sind dann symptomatisch für bestimmte politische Verhältnisse […]. Auf einer dritten Ebene schließlich können Bauten aber auch durch bestimmte Mittel Aussagen zu politischen Vorgängen in ihrer Entstehungszeit treffen; sie sind dann bedeutungstragendes Medium in politischen Diskursen […].

Architektur kann politische Funktionen auf verschiedene Weisen erfüllen. Ein Bau kann einen praktischen politischen Zweck haben. […] Er kann aber auch politische Bedeutung besitzen, obwohl er primär anderen Zwecken dient. […]

Architektur ist nie gänzlich durch politische Vorgänge fremdbestimmt […]. Sowenig die Politik die Architektur gänzlich bestimmen kann, sowenig kann auch Architektur politische Vorgänge gänzlich ersetzen. […] Es gibt keine ausschließlich politische Architektur.

[…] Auf der Ebene des praktischen Zwecks heißt dies z.B., dass ein Versammlungssaal für politische Gremien auch für andere Versammlungszwecke genutzt werden kann […]. Architektonische Formen können Bedeutungsträger sein. Im Gegensatz zu Schrift und Bildformen dienen sie aber nicht primär einer Bedeutungsvermittlung, d.h. nicht jede architektonische Form ist ein Zeichen. […]

Architektonischen Formen politische Bedeutung zuzuweisen, erweist sich oft als schwierig. Meist wird die Aussage über programmatische Bild- bzw. Schriftzusätze am Gebäude geleistet. […] Spezifische politische Bedeutung lässt sich einem Bau meist nur durch schriftliche Quellen zuordnen.“ (Wolfgang Sonne: Der politische Aspekt von Architektur, in: Die griechische Polis. Architektur und Politik, hg. von Wolfram Hoepfner und Gerhard Zimmer, Tübingen 1993, S. 11-16)

All das bedeutet nicht, dass Parlamentsarchitektur nicht eine besondere politische Bedeutung hat, die über jene vieler anderer Bautypen – je nach politischem Kontext – hinausgeht. Da es (auf nationaler Ebene) pro Staat/Nation nur ein (oder zwei, wenn die zweite Kammer ein eigenes Gebäude besitzt, wie etwa in Frankreich) Parlamentsgebäude gibt, wird dieses oft als Selbstdarstellung dieser Nation gesehen und dementsprechende Bedeutung wird der architektonischen Gestaltung beigemessen. Diesbezügliche öffentliche Diskussionen gab und gibt es bei der Errichtung beinahe aller Parlamente, insbesondere sei auf die zweimalige getreue Wiedererrichtung des britischen Unterhauses in den letzten 150 Jahren hingewiesen, obwohl der Saal schon lange davor viel zu klein war, aber auch auf die endlose deutsche Diskussion über Parlamentsarchitektur, Demokratie und Transparenz. Manchmal werden auch politische Gründe zum Vorwand genommen, um künstlerische Entscheidungen zu legitimieren: So begründete etwa Theophil Hansen die Errichtung des Wiener Parlaments in neogriechischem Stil damit, dass dies der einzige einer Volksversammlung angemessene wäre. Allerdings war sein Entwurf für die Hofmuseen am Ring im gleichen Stil konzipiert, der wahre Grund fürs Griechentum dürfte also anderswo liegen. Und auch der Umkehrschluss, dass Hansen aufgrund seiner Graecophilie beauftragt worden war, erweist sich als falsch: Es heißt, er hätte den Parlamentsbau vom Kaiser persönlich als „Tauschgeschäft“ dafür, dass der Auftrag über die Hofmuseen nicht an ihn gegangen war, erhalten – und Franz Joseph’ I. Entscheidung dürfte wohl kaum von dem Wunsch getragen gewesen sein, der Demokratie ein Denkmal zu setzen.