Projektdokumentationen

Projektdokumentationen, in: Florian Haydn, Robert Temel (Hg.): Temporäre Räume. Konzepte zur Stadtnutzung, Birkhäuser: Basel 2006, S. 128–269

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Ausschnitt S. 147:

Reclaim the Streets!
Das Konzept von Reclaim the Streets! ist simpel: Für kurze Zeit soll der öffentlichen Raum angeeignet werden, und zwar mithilfe einer großen Anzahl von Körpern, mit Kreativität und Musik – dabei soll es freundlicher zugehen als bei einer konventionellen politischen Demonstration, um Polizeiaktionen unwahrscheinlicher zu machen, gleichzeitig aber doch genügend Störung von Autoverkehr und Konsumentenalltag erreicht werden. Das Konzept entstand in London Mitte der 1990er Jahre, es ging dabei vor allem um eine Kritik am Autoverkehr. Ausgangspunkt waren viele Besetzungen von Baustellen des großen Straßenbauprogramms Anfang der 90er, die dann mit der Besetzung der Baustelle für die mittlerweile eröffnete Zufahrt zur Autobahn M11 durch ein Wohngebiet in London 1993 die Stadt erreichten und den ökologischen soziale Anliegen an die Seite stellten. Der tägliche Autoverkehr ist eine Basis der Londoner Ökonomie, wie der jeder europäischen Stadt, weshalb seine negativen Konsequenzen kaum Beachtung finden. Vor diesem Hintergrund gelang es, das Anliegen der unangemeldeten Straßenparties den bürgerlichen Medien und damit einer breiteren Öffentlichkeit plausibel zu machen. Die jeweiligen Festorte verbreiten sich kurzfristig über eine Telefonnummer oder Mundpropaganda, so wie bei Raves – gegen diese und andere neue Formen zivilen Ungehorsams wurde 1994 der Criminal Justice Act eingeführt, der das Auflösen der Parties erlaubte und somit auch zu einem Angriffspunkt von Reclaim the Streets! wurde. Reclaim the Streets! will das Gemeingut der Straße, das als heute „enclosed“ bezeichnet wird, wieder für alle öffnen, indem es den Autofahrern entzogen wird – es geht somit nicht nur um ökologische Anliegen, sondern auch um Kapitalismuskritik. Spätestens seit dem globalen Aktionstag am 16. Mai 1998 wird das Prinzip von Reclaim the Streets! weltweit, vor allem in europäischen, amerikanischen und australischen Städten, kopiert.