2004–2005 Utopien des Alltäglichen – Die 60er und 70er zwischen Moderne und Postmoderne

Konzeption des thematischen Schwerpunktes Utopien des Alltäglichen – Die 60er und 70er zwischen Moderne und Postmoderne, Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGFA), zusammen mit Christa Kamleithner.

Programmbeschreibung:

„Der Abstand, den HistorikerInnen zu ihrem Gegenstand einhalten, beträgt in der Regel 40 Jahre. Dies hat praktische Gründe, vor allem aber scheint erst dann genügend Zeit verstrichen zu sein, um eine distanzierte Arbeit sicherzustellen. Diese Tätigkeit ist trotz ihrer Distanziertheit nicht unpolitisch: Die Auswahl aus dem Archiv beinhaltet eine Politik, die den Gegenstand in einem neuen Licht erscheinen lässt. Wenn die Österreichische Gesellschaft für Architektur die 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts als Schwerpunkt wählt, liegt ein Grund darin, dass in dieser Zeit die Grundlegung des heutigen Architektur- und Stadtverständnisses stattgefunden hat; ein anderer liegt darin, dass trotz einer gewissen Kontinuität viele Unterschiede festzustellen sind. Wichtige Fragestellungen sind in den Hintergrund getreten, die es lohnen, wieder eine breite Auseinandersetzung zu erfahren. Was kennzeichnet diese Zeit, worin liegen die Veränderungen gegenüber der Zwischenkriegszeit und der Phase des Wiederaufbaus? Dazu findet man folgende Auskunft: „Die dritte Generation [der modernen Architektur] wendet sich gegen die Verhärtung der rationalen Systeme […] und zeigt eine große Vielfalt von […] Bewegungen und Tendenzen, in denen sie sich produktiv und kritisch mit der bisherigen Leistung der modernen Architektur auseinandersetzt […]. Insgesamt spiegelt sich in ihrer Arbeit eine neue Vielfalt […] von der äußersten Technisierung des Daseins bis zur romantisierenden Volkstümlichkeit.“ Die kulturwissenschaftliche Forschung findet dafür einfache Worte: „Ausdifferenzierung von Lebensstilen“. Die Kritik am fordistischen System des Kapitalismus, am Bauwirtschaftsfunktionalismus, wurde von diesem aufgesogen und führte zu seiner Modifizierung. Die Einheitsnorm ist einer Pluralität an Bauformen gewichen, die Kritik an Bürokratie und alten Autoritäten hat einen neuen „Geist des Kapitalismus“ hervorgebracht. Dabei haben die Forderungen von 1968 einen Wandel erfahren, dem es nachzuspüren gilt. Ein Ausdruck dieses Paradigmenwechsels, der zu einem breiten Spektrum von neuen Ansätzen geführt hat, war die Auseinandersetzung über die funktionalistische CIAM-Moderne, die ihren Höhepunkt auf dem 10. Kongress in Dubrovnik 1956 fand. Gemeinsam war diesen Ansätzen, dass sie nicht mehr auf den „neuen Menschen“ – auf normierte Lebens- und Gesellschaftsentwürfe – abzielten, sondern dass sie ihre Basis im Alltäglichen und Phänomenalen suchten, sich aber gleichzeitig nicht in Pragmatik erschöpften, sondern umfassende Reformen zum Ziel hatten. Für unsere Veranstaltungsreihe wichtige Themen dieser Generation sind die Frage des Populären, die Auseinandersetzung mit Strukturalismus und Semiotik, die Kritik am Geniearchitekten, wie sie sich in den Schlagwörtern Partizipation und Stadterneuerung äußert, die Auseinandersetzung mit dem Körper sowie der Einfluss neuer Disziplinen wie Ökologie, Kybernetik und Informationstheorie. Die Aufnahme dieser Themen führte einerseits zu neuen utopischen Entwürfen, aber andererseits auch zu einer Wertschätzung des Vorhandenen, des Historischen, zur Wiederentdeckung der Stadt – verbunden mit dem Wunsch, umfassend in die gesellschaftliche Realität einzugreifen, was sich in einer breiten Institutionenkritik und der Beschäftigung mit „architekturfremden“ Belangen äußerte. Zu den Schlagworten „Fundstücke“, „Zeichen“, „Mitsprache“, „Lebensreform“, „Stadt“ und „Erweiterung des Architekturbegriffs“ wird es verschiedene Veranstaltungsformen – Vorträge, Diskussionen und Bauvisiten – geben, die sowohl den historischen Diskurs als auch die aktuelle Relevanz der Themen behandeln werden.“